Die Älteren werden sich noch erinnern: Vor gar nicht allzu langer Zeit schickte man aus dem Urlaub keine WhatsApp-Nachricht und postete auch keine Fotos von Sonnenuntergängen und Hängematten auf Instagram. Stattdessen nahm man den Stift in Hand und schrieb eine Postkarte. Die hatte ihren Siegeszug als Massenkommunikationsmittel bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angetreten. Weil die Post in den Ballungszentren einst mehrmals täglich zugestellt wurde, konnte man morgens eine Karte schreiben, um sich für einen Termin am Nachmittag zu verabreden. Mit verbesserten und verbilligten Druckverfahren wurden Postkarten dann auch als Werbe- und Propagandamittel genutzt – auch von unserem Verband.

Das zeigt eindrücklich der vor Kurzem erschienene Sammelband „,Mit revolutionären Grüßen‘. Postkarten der Hamburger Arbeiterbewegung 1900–1945 für eine Welt ohne Ausbeutung, Faschismus und Krieg.“ 38 Autorinnen und Autoren hat Sammler René Senenko, der sich unter anderem in dem Verein für Kultur und Erinnerungsarbeit „OLMO e. V.“ engagiert, für die Mitarbeit gewinnen können. „Die Solidarität war ja überall!“ ist das Kapitel von Werner Skretny überschrieben, das sich einer Episode unserer wechselvollen Verbandsgeschichte annimmt. Es ist das an anderer Stelle veröffentlichte Zitat eines Zeitzeugen, der sich an die beliebten Wanderfahrten der damaligen Zeit erinnerte: Bis nach Leipzig oder Dresden sei man gefahren, übernachtet wurde bei anderen Ortsgruppen – denn die gab es „überall“.

Wie passend, dass der Aufhänger des Beitrags ausgerechnet eine Postkarte ist, auf der die Delegierten des 17. Bundestages während eines Ausfluges nach Blankenese zu sehen sind – statt mit dem Zweirad allerdings ausnahmsweise mit schickem Zwirn. Die Zusammenkunft im Jahre 1928 ist jene, auf der die Umbenennung von „Arbeiter-Radfahrerbund“ (ARB) in „Arbeiter-Rad- und Kraftfahrerbund“ (ARKB) beschlossen wird. Ganze acht Abteilungen gibt es seinerzeit in der Hansestadt, einer Hochburg der Arbeiterbewegung: St. Pauli-Neustadt, Hoheluft-Eimsbüttel, Eppendorf, Barmbek, Hamm, Rothenburgsort, Hammerbrook und Groß-Hamburg.

 

Blick ins Buch

 

Auf der Tagesordnung steht unter anderem ein – letztlich abgelehnter – Antrag, dass alle „Solidaritätler“ gleichzeitig Mitglieder von SPD und Gewerkschaften sein müssen. Gleichzeitig berichtet das sozialdemokratische „Hamburger Echo“, der KPD-nahe „Rotfrontkämpferbund“ habe die öffentlichen Umzüge der RKB-Radler gestört. So wird auch der 17. Bundestag von der damals weitgehend abgeschlossenen Spaltung der Arbeiterbewegung in Sozialdemokraten auf der einen und Kommunisten auf der anderen Seite überschattet – eine Spaltung, die sich bis heute auswirkt, in aktuellen politischen Debatten, aber auch auf die Perspektiven und Bewertungen der gar nicht allzu fernen Vergangenheit. Das hebt auch Herausgeber Senenko in seinem einleitenden Kapitel hervor: „Einige Autorinnen und Autoren erblicken im Jahr 1919 primär die Geburtsstunde der Demokratie in Deutschland, andere vor allem den Verrat an der Revolution. Diese Unterschiedlich-, gar Gegensätzlichkeit prägt die Geschichte der Arbeiterbewegung und soll sichtbar bleiben.“ Das aufwendig gestaltete, reichlich bebilderte Buch garantiert so nicht nur ein kurzweiliges, sondern auch informatives Leservergnügen zum Nachdenken – nicht nur für Hamburger und schon gar nicht nur für Menschen, die auch heute noch Postkarten schreiben.

Senenko, René (2022) (Hrsg.): „Mit revolutionären Grüßen“. Postkarten der Hamburger Arbeiterbewegung 1900–1945 für eine Welt ohne Ausbeutung, Faschismus und Krieg. Herausgegeben von René Senenko. Hamburg: VSA Verlag.
288 Seiten, Hardcover, Farbe, 24,80 EUR.
ISBN: 978–3-96488-108-3

Mehr Infos inklusive Leseprobe auf der Seite des Verlags

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