Wer am ersten Oktoberwochenende den Sportpark Neu-Isenburg betrat, konnte sie spüren: diese besondere Mischung aus Aufbruch, Erinnerung und Miteinander. Zwischen Rollschuhbahn, Kletterturm und Workshopräumen entstand an fünf Tagen etwas, das weit über ein Sportfestival hinausging. SPORTOPIA war ein Experiment – und eine Einladung: Sport als gesellschaftliches Labor zu begreifen, als Raum für Austausch, Solidarität und Zusammenhalt.
Das Festival war bewusst dort angesiedelt: Nur wenige Kilometer entfernt, im Frankfurter Waldstadion (heute offiziell „Deutsche Bank Park“), fand 1925 die erste Internationale Arbeiterolympiade statt. Ein Jahrhundert ist seither vergangen, doch damals wie heute standen dieselben Fragen im Raum: Wem gehört der Sport? Wofür steht er? Und was kann er gesellschaftlich bewegen?
Warum SPORTOPIA – und nicht „Arbeiterolympiade 2025“?
Der Name war Programm. „SPORTOPIA“ verband die Erinnerung an das Erbe des Arbeitersports mit der Idee einer solidarischen Zukunft.
„Arbeiterolympiade“ – so verdienstvoll die Großveranstaltung historisch ist – klingt heute nach Museum. SPORTOPIA sollte dagegen leben, inspirieren, irritieren, begeistern. Der Name signalisiert Haltung: Wir blicken nicht nur zurück, wir denken weiter. Denn mit SPORTOPIA sollte gezeigt werden, dass die Werte der Arbeitersportbewegung immer noch aktuell sind – aber in einer neuen Sprache, mit neuen Formen.
Die Internationale Jugendbegegnung: Bewegung, Bildung, Begegnung
Bereits am 1. Oktober startete die internationale Jugendbegegnung, die das Fundament von SPORTOPIA bildete. Junge Menschen kamen zusammen, um sich mit der Geschichte und Zukunft des solidarischen Sports auseinanderzusetzen.
In Workshops, Sprachanimationen und Diskussionsrunden ging es nicht nur um geschichtliche Hintergründe der Arbeiterolympiaden, sondern unter anderem auch um Fragen, welche Rolle Menschenrechte im Sport haben und haben sollten oder was gegen Antisemitismus im Sport getan werden kann. Nicht fehlen durfte natürlich auch eine exklusive Besichtigung des Waldstadions.

Mit dabei waren eine Delegation des niederländischen NCS, mit dem die Solijugend seit vielen Jahren partnerschaftlich verbunden ist, sowie erstmals junge Menschen der französischen FSGT – eine neue Kooperation, die bei SPORTOPIA ihren Auftakt feierte. Diese Verbindung über nationale Grenzen hinweg war spürbar: Beim gemeinsamen Essen, beim Spielen, beim Lachen: Hier entstand in wenigen Tagen eine kleine internationale Gemeinschaft, die verstanden hat, was Solidarität im Sport heißt.
100 Jahre Arbeiterolympiade – Erinnerung, die bewegt
1925, Frankfurt am Main: 40 000 Zuschauerinnen und Zuschauer im neuen Waldstadion, 1 100 Athletinnen und Athleten aus elf Ländern, Slogans wie „Nie wieder Krieg“ und „Für den Achtstundentag“ auf der mutmaßlich größten Demonstration, die jemals durch die Mainmetropole zog. Die erste Arbeiterolympiade war ein politisches Manifest – und der RKB „Solidarität“ mittendrin.
Die Arbeitersportbewegung wollte den Sport aus der Hand der bürgerlichen Eliten nehmen und ihn zu einem Werkzeug sozialer Gerechtigkeit machen. „Massensport statt Kampfrekord“ lautete das Motto. Sport sollte keine Bühne für nationale Eitelkeiten und Rekordjagden sein, sondern Mittel der Emanzipation und Gemeinschaft. Auf nationale Symbole wie Flaggen oder Hymnen wurde bewusst verzichtet.
Und doch blieben Widersprüche bestehen: Auch 1925 wurden Zeiten gestoppt, Sieger geehrt und Urkunden verteilt – ganz ohne Konkurrenz ging es eben nicht. Dieser innere Konflikt zwischen Gemeinschaftsideal und sportlichem Ehrgeiz zieht sich bis heute durch den Amateur- und Arbeitersport – und macht vielleicht gerade seinen besonderen Reiz aus.
Von der SASI zur CSIT – und weiter
Schon 1913 hatten sich Arbeitersportverbände weltweit zusammengeschlossen, um sich gegen Ausgrenzung und Klassenschranken im Sport zu organisieren. Aus der Sozialistischen Arbeitersport-Internationale, die im Zweiten Weltkrieg zerschlagen wurde, ging später die CSIT (Confédération Sportive Internationale Travailliste et Amateur) hervor – heute ein internationaler Verband mit über 80 Organisationen aus mehr als 60 Ländern. Auch der RKB „Solidarität“, der niederländische NCS und die französische FSGT sind Teil dieser Gemeinschaft. Die CSIT World Sports Games gelten heute als das größte Breitensportereignis der Welt – ganz im Geist der Arbeiterolympiaden: fair, inklusiv, solidarisch. Im Juni hatte der RKB zum zweiten Mal mit einem Rollkunstlauf-Team teilgenommen.
Erinnerung als Erlebnis: Ausstellung, Vortrag und filmische Neuinterpretation
Wie lebendig Erinnerungskultur sein kann, zeigte SPORTOPIA auch jenseits des Sports. Auf dem Außengelände war eine Ausstellung zur Geschichte der Arbeiterolympiade zu sehen, die der Sportkreis Frankfurt zur Verfügung gestellt hatte. Sie machte deutlich, welch starke lokale und gesellschaftliche Bedeutung die Frankfurter Spiele von 1925 hatten – und wie nah die Geschichte bis heute an der Gegenwart bleibt.
Zusätzlich beleuchtete der Frankfurter Historiker Dieter Wesp in einem Vortrag die Hintergründe der Arbeiterolympiade und die Rolle des RKB „Solidarität“ im Kontext der damaligen Arbeitersportbewegung. Seine Perspektive lenkte den Blick weniger auf Parolen, sondern auf Strukturen, Netzwerke und die enorme organisatorische Leistung, die das Ereignis möglich gemacht hatte.
Ein besonderer Höhepunkt war die Premiere des Kurzfilms „Kampf um die Erde“ des Performance-Kollektivs „LIGNA“. Die filmische Neuinterpretation basiert auf einer aufgezeichneten Performance, die im Juni im Rahmen des Frankfurter Festivals „Sportproben“ anlässlich des Jubiläums der ersten Arbeiterolympiade entstanden war. Das Original, ein Weihespiel des jüdischen Dichters Alfred Auerbach, war der Versuch, mit Sprech- und Bewegungschören eine neue proletarische Kunstform zu etablieren. Aufgeführt unter Beteiligung Tausender Sängerinnen und Sänger war es der kulturelle Höhepunkt der ersten Arbeiterolympiade. LIGNAs zeitgenössische Fassung überführte diese Idee in die Gegenwart: als künstlerische Reflexion über Körper, Arbeit, Bewegung und gesellschaftlichen Wandel.
„100 Meter Vorwärts!“: Die Entdeckung der Langsamkeit
Wie sich Geschichte nicht nur erinnern, sondern erleben lässt, zeigte SPORTOPIA auch ganz praktisch. Mit dem Wettbewerb „100 Meter Vorwärts!“, den das Performance Künstler-Kollektiv „red park“ bereits im Juni durchgeführt hatte – ebenfalls im Rahmen des Festivals „Sportproben“. Es ist das historische Langsamradfahren der Arbeiterolympiade. Hier siegt, wer am längsten braucht, um 100 Meter zurückzulegen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. 1925 war der Rekordhalter Valentin Stieber aus Güntersleben mit 14 Minuten und 22 Sekunden. 2025 gewann Lenny mit ebenfalls respektablen 4:14,05 Minuten, in der Kinderwertung siegte Ben mit 2:57,99 Minuten.

Ein symbolträchtiger Gegenentwurf zum „höher, schneller, weiter“ der bürgerlichen Olympiaden. Und Sinnbild für das, was SPORTOPIA ausmacht: Haltung zeigen, Gleichgewicht bewahren – und Spaß dabei haben.
Freitag bis Sonntag – Vielfalt, Bildung und gelebte Solidarität
Am Freitag eröffnete RKB-Vizepräsident Sport Hanspeter Friede offiziell die Veranstaltung und auch Bürgermeister Gene Hagelstein grüßte die Gäste, Sportlerinnen und Sportler mit einer Videobotschaft, die wenige Stunden zuvor vor Ort aufgenommen worden war.

RKB-Vizepräsident Sport Hanspeter Friede während seiner Rede bei der Eröffnungsfeier
Zu diesem Zeitpunkt war ein besonderes Highlight bereits im vollen Gange: der SPORTOPIA Dance Cup , die erste Veranstaltung des neu gegründeten Vereins „Dancesport Heritage Deutschland“, der dem RKB beigetreten ist. Paare aus zahlreichen europäischen Ländern sorgten nicht nur für Glanz und Glamour, sondern für ein internationales Flair, das die Grundidee des Festivals perfekt spiegelte: Bewegung als Begegnung.
Auf dem Gelände präsentierten sich Sportvereine, Initiativen und Partnerorganisationen. Der Rote Stern Frankfurt organisierte ein ganzes Fußballturnier, bot ein Schnuppertraining im Krav Maga, zusammen mit Makkabi Frankfurt einen Einblick ins Sparring, einen niedrigschwelligen Einstieg ins Roller Derby und eine Filmvorführung mit anschließendem Publikumsgespräch („Queerness im Sport“), der junge Deutsche Catch’n Serve Ball Verband lud zu einem offenen Wettbewerb und die Naturfreunde – bereits 1925 bei der Arbeiterolympiade aktiv – rückten gar mit einem eigenen Kletterturm an. Vom RKB selbst engagierten sich unter anderem der RKB Wetzlar (Radpolo), der Offenbacher Verein radraum – unter anderem mit DIY-Radreparatur-Stationen –, die DIHL (Inlinehockey) mit einem Nachwuchsturnier, Bundestrainerin Kathrin Igel mit einem Einblick ins Kunstradfahren – und last but not least natürlich der ortsansässige RSV Neu-Isenburg, dessen Team das Festival organisatorisch und logistisch entscheidend unterstützte.

Der Samstag stand im Zeichen der gesellschaftspolitischen Themen: Beim Panel „Sport und Politik“ stellten der Journalist Martin Krauss mit „Dabei sein wäre alles – Wie Athletinnen und Athleten bis heute gegen Ausgrenzung kämpfen“ und der Autor Dieter Vaupel mit „Die Deutschland-Rundfahrt. Geschichte eines Radrennens 1911 bis 1950“ ihre neuen Bücher vor, bevor die Runde um Thomas Zacharias (Vizepräsident CSIT) sowie Lisi Maier (Direktorin Bundesstiftung Gleichstellung) erweitert wurde und sich so zu einem spannenden Austausch über Verantwortung, Haltung und politisches Engagement im Sport entwickelte.

Paneldiskussion bei SPORTOPIA: Lisi Maier, Thomas Zacharias, Dieter Vaupel, Martin Krauss und Moderator Tilmann Ziegenhain (von links)
Unter den Ehrengästen befanden sich außerdem unter anderem Hermann Krist, Präsident der ASKÖ, und Gerhard Widmann, Vizepräsident Finanzen und Wirtschaft der ASKÖ – und so bot SPORTOPIA auch abseits der Bühnen und Podien genug Gelegenheit, um Verbindung zu vertiefen und neue Kontakte zu knüpfen. Auch Vertreter der Landesverbände schauten vorbei: Thomas Bottelberger, Landesvorsitzender RKB Solidarität Hessen, Frank Hoppe, Präsident Sportverband Solidarität Württemberg und Harald Schmid, Präsident RKB Solidarität Bayern.

Ehrengäste und Ehrenamtliche des RKB: Hermann Krist (Präsident ASKÖ), Carolin Seitz (RKB-Bundesnachwuchstrainerin Hallenradsport), Thomas Zacharias (Vizepräsident CSIT), Gerhard Widmann (ASKÖ-Vizepräsident Finanzen und Wirtschaft) und Tobias Köck (RKB)
Fritz-Walter-Wetter auf dem Rasenplatz
Auch beim Fußballturnier ohne Schiedsrichter zeigte sich die Philosophie von SPORTOPIA: Vertrauen, Fairness, Selbstregulierung. So einigten sich der Rote Stern Berlin und der Rote Stern Flensburg schließlich auf ein friedliches Unentschieden, auch wenn der Pokal schließlich mit nach Flensburg ging. Verdient hätten ihn alle Fußballteams, denn gekickt wurde auf dem Außengelände – und das Wetter zeigte sich ausgerechnet am Samstag von seiner herbstlichen, regnerischen Seite.

Und dennoch herrschte beste Stimmung – rund 600 aktive Sportlerinnen und Sportler und bis zu 1.000 Gäste machten SPORTOPIA zu einem echten Fest der Bewegung.
Am Sonntag schloss das Festival mit einer zwar kleinen, aber feierlichen Zeremonie: Christine Wagner, Stadtverordnetenvorsteherin von Neu-Isenburg, würdigte das Engagement aller Beteiligten, der Rote Stern Chor, eine Rollkunstlauf-Show und die mitreißende Kür der Kunstrad-Weltmeisterin 2022 Jana Pfann sorgten für emotionale Momente.
Blick nach vorn: SPORTOPIA 2.0?
Tobias Köck, einer der ehrenamtlichen Organisatoren des RKB, blickte im Gespräch mit dem „Vorwärts“ bereits nach vorn: „Wir sollten den 100. Jahrestag der ersten Arbeiterolympiade zum Anlass nehmen, künftig regelmäßig Bundesspiele in unserem Verband zu veranstalten.“ Damit knüpft SPORTOPIA an eine alte Tradition an – und öffnet zugleich neue Perspektiven, nicht nur durch die Kooperation mit anderen Verbänden und Vereinen, sondern insbesondere auch für die Solijugend: Johannes Frank, stellvertretender Vorsitzender für den Bereich internationale Jugendarbeit, freute sich vor allem über die neuen internationalen Kontakte, die während SPORTOPIA geknüpft wurden. Und auch Hanspeter Friede, RKB-Vizepräsident Sport, zog ein klares Fazit: „Mit dieser hervorragend gelungenen und sehr öffentlichkeitswirksamen Veranstaltung ist der RKB seiner Verantwortung aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen gerecht geworden.“
SPORTOPIA hat gezeigt: Solidarischer Sport ist keine Utopie – er findet statt.

Teilnehmende der internationalen Jugendbegegnung versuchen sich im Catch’n Serve – mit Erfolg!
Das Wochenende im Film




